Der Wald ist ein Lebensraum, Wirtschaftsfaktor und ein Ort für Erholung und Entspannung. Nicht zu vergessen: Bäume sind unverzichtbar fürs Klima.
Judith van de Bruck legt ihre Hand flach an die Rinde einer Buche. „Es gibt Menschen in meinen Kursen, die noch nie bewusst einen Baumstamm angefasst haben“, sagt sie. „Die sind dann überrascht, wie beruhigend es ist, einfach mal innezuhalten.“ Für van de Bruck ist der Wald Teil ihres Alltags und ihres Arbeitslebens – die gelernte Heilpädagogin zeigt anderen Menschen, wie ihnen der Wald dabei helfen kann, sich zu entspannen.
Judith van de Bruck gibt Kurse im Waldbaden.
Möglichkeiten gibt es dafür im Ruhrgebiet genug – etwa 143 Quadratmeter Wald kommen hier auf jeden Bewohner. Das sind insgesamt an die 80.000 Hektar. Was nach viel klingt, ist aber eigentlich eher wenig. Denn die Bäume stehen auf gerade einmal 21 Prozent der Fläche, während bundesweit über 32 Prozent des Landes bewaldet ist. Das wissen die Bürger*innen auch zu schätzen. Bei einer repräsentativen Umfrage haben 87 Prozent der Erwachsenen angegeben, dass sie sich gerne im Wald aufhielten. Sie gehen dort spazieren, fahren Fahrrad, beobachten Tiere, sammeln Pilze, besuchen Sehenswürdigkeiten, joggen – der Wald scheint ein riesiger Freizeitpark zu sein. Das gilt für Ballungsgebiete wie das Ruhrgebiet besonders, und es klappt gut, wenn alle sich an die Regeln halten. Dazu gehört es auch, für Veranstaltungen Genehmigungen einzuholen.
Auch in Kletterwäldern wie dem in Haltern kann man unter Bäumen aktiv werden.
Der Wald ist aber nicht nur eine Freizeitidylle, er ist auch gefährdet. Die Trockenheit der letzten Jahre hat den Bäumen zugesetzt und sie anfällig gemacht für Schädlinge wie den Borkenkäfer. Betroffen sind vor allem Fichtenwälder, von denen es im Ruhrgebiet mit 12 Prozent übrigens verhältnismäßig wenige gibt. Hier herrscht mit 73 Prozent Laubwald vor, und das ist auch gut so. Denn bei Monokulturen aus Fichten handelt es sich um Baumplantagen. Sie sind weniger widerstandsfähig als natürlich gewachsene Wälder und bieten nicht so viel Raum für die Artenvielfalt. Das Bewaldungskonzept des NRW-Umweltministeriums sieht daher vor, dass dort, wo jetzt Fichten gefällt werden müssen, neue Mischwälder entstehen sollen, aus mindestens vier verschiedenen Baumarten. Umweltverbände fordern zudem, dass es mehr Bereiche geben müsse, in denen der Wald sich ungestört vom Menschen entwickeln darf. Das bezieht sich allerdings auf die Staatsforste, und die sind im Ruhrgebiet in der Minderheit. Etwa 67 Prozent der Waldflächen befinden sich in Privatbesitz.
Zurück zu Judith van de Bruck. Sie bezeichnet sich selbst als „Waldhexe“, obwohl ihre Herangehensweise sehr pragmatisch ist. „Ich bin Heilpädagogin und habe etliche Fortbildungen gemacht, etwa zur Yoga-Lehrerin. Da sitzt man in Zentren inmitten wunderschöner Natur, redet über Entspannung und immer findet alles drinnen statt. Dabei habe ich an mir selbst gemerkt, wie beruhigend ein Spaziergang in der Natur ist.“ Sie entdeckte das Thema Waldtherapie und besuchte weitere Fortbildungen. Jetzt verbringt sie viel Zeit unter Bäumen. „Ich nutze die Wirkung des Waldes gezielt für therapeutische Zwecke“, erklärt sie. „Zum Beispiel während der Hochphasen der Corona-Pandemie haben viele Menschen gemerkt, wie gut es ihnen getan hat, wenn sie in den Wald gegangen sind. Sie konnten befreiter aufatmen und das Gefühl der Hilflosigkeit zumindest vorübergehend ablegen.“
Tatsächlich ist ein Waldbesuch gesund. Das haben zahlreiche Studien belegt. Die Bewegung stärkt das Immunsystem, während die Bäume wohltuende ätherische Öle abgeben. Auch Blutdruck und Herzfrequenz sinken und der Spiegel des Stresshormons Cortisol nimmt messbar ab. Warum das so ist, lässt sich nur vermuten. Auch van de Bruck kann nicht genau erklären, warum ihr der Wald so guttut. „Ich denke, es liegt daran, dass der Wald etwas Archaisches hat. Wir reagieren anders darauf.“ Ein weiterer Aspekt komme hinzu: „Für viele Menschen ist der Alltag darauf ausgelegt, dass sie funktionieren müssen, für die Karriere, für die Familie. Im Wald spielt all das keine Rolle. Man kann im Hier und Jetzt sein, die Gegenwart wahrnehmen und abschalten.“
Der Wald als Blutdrucksenker
Der Wald hat also eine große Bedeutung für uns. Umso wichtiger ist es, ihn zu schützen. Dafür ist unter anderem Peter Bergen zuständig. Er leitet das Regionalforstamt Ruhrgebiet, das die Aufgabe hat, die Wälder zu erhalten und zu vermehren, und dabei auch die privaten Waldbesitzer berät. Aus seiner Sicht muss die Waldnutzung immer auf Nachhaltigkeit ausgelegt sein. „Dabei bewegen wir uns in einem großen Spannungsfeld“, sagt er. „Wir wollen den Wald erhalten und seine wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Leistungen nutzen. Gleichzeitig gibt es einen großen Druck, Waldflächen umzuwandeln.“ Umwandlungen müssen aber in einem größeren Umfang ersetzt werden. So hat die Waldfläche in den vergangenen Jahren im Durchschnitt um 10 Hektar pro Jahr zugenommen. Ein regelrechtes Vorzeigeprojekt sind die Industriewälder im Ruhrgebiet. Aktuell gibt es 9 Flächen, wo sich die Natur ehemals industriell genutzte Fläche zurückerobert und nach und nach wieder echte Wälder entstehen. Eine dieser Flächen liegt zwischen Bochum und Herne auf dem Gelände der ehemaligen Zeche Constantin 10.
Judith van de Bruck empfiehlt, den Wald auf achtsamen Spaziergängen zu erkunden.
Judith van de Bruck hat gerade einen Tannenzapfen entdeckt. Sie hebt ihn auf, schließt die Augen und riecht daran. Sie ist heute nicht allein unterwegs, sondern mit einer Gruppe von Menschen, die lernen wollen, wie man sich im Wald entspannt. Der Trend „Waldbaden“ stammt aus Japan und heißt eigentlich nichts anderes, als den Wald bewusst zu erleben, um Abstand zum Alltag zu bekommen. „Schon am Parkplatz versuchen wir, das Sorgengepäck symbolisch abzulegen“, sagt van de Bruck. „Wir machen Atemübungen und wenden Techniken an, die dem Yoga oder Tai Chi entlehnt sind. Wir wandern gemeinsam durch den Wald und nutzen dabei alle Sinne, hören den Vögeln zu, dem Rauschen des Windes in den Baumkronen. Wir versuchen auch, mit den Füßen den Boden zu spüren, am besten barfuß.“ Beim Waldbaden gehe es nicht um Wissensvermittlung. Das ist ihr wichtig. „Denn der Verstand soll mal außen vor bleiben, Emotionen stehen im Vordergrund. Es gibt keinen Druck, etwas tun zu müssen.“ Ihre Gruppenkurse seien niederschwellig, ein angeleiteter Waldspaziergang, inklusive Entspannungsübungen. Trotzdem erlebt sie es immer wieder, dass manche Teilnehmer die Vögel erst gar nicht hören oder Hemmungen haben, sich auf den belaubten Boden zu setzen. „Umso wichtiger ist es, sich auf die Natur einzulassen“, sagt sie. „Wenn man regelmäßig im Wald sitzt und erlebt, wie ein Reh auf die Lichtung tritt, dann ist der Stress im Job plötzlich nicht mehr so wichtig.“
Erschienen im Kundenmagazin Meine Stadtwerke